Wie aus zarten Pflänzchen starke Bäume werden

Neben den beiden Schulleitern werden in Zukunft auch Lehrerinnen und Lehrer gelegentlich einen Wochenbrief schreiben. Den Anfang macht Danilo Raffaele, er übergibt dann einer Person seiner Wahl den Stab für den nächsten Einblick in den Schulbetrieb.

Ich unterrichte Geschichte. Ein Fach, in welchem man auf die Vergangenheit zurückblickt, aber auch das Jetzt analysiert sowie Methoden erarbeitet, mit welchen man beides besser verstehen kann. In diesem Sinne habe ich mit den dritten Klassen, welche ich seit den Sommerferien neu unterrichten darf, begonnen – und zwar mit einem Längsschnitt zum Thema Kindheit/Kinderarbeit.

Dabei geht es um historische Inhalte; beispielsweise darum, dass Kinder im Mittelalter in die Welt der Erwachsenen integriert waren und Mini-Erwachsenen gleich, sobald sie dazu fähig waren, auf dem Hof oder im Handwerksbetrieb der Eltern mithalfen. Oder dass im Rahmen der Aufklärung die Kindheit als Schonzeit «entdeckt» wurde, in welcher die Kinder zarten Pflänzchen gleich gehegt und gepflegt werden sollen, damit sie zu starken Bäumen und Stützen der Gesellschaft heranwachsen können (selbst wenn sich das natürlich nur die bürgerliche Elite leisten konnte und die Erziehung von Mädchen und Knaben streng voneinander getrennt geschlechterspezifische Ziele verfolgte). Ich thematisiere ebenfalls, dass Kinderarbeit auch heute noch in vielen Teilen der Welt verbreitet ist, obwohl sie gemäss geltender UNO-Konventionen verboten ist; die Internationale Arbeitsorganisation ILO schätzt, dass weltweit 152 Millionen Mädchen und Jungen einer Arbeit nachgehen, die sie ihrer fundamentalen Rechte und Chancen beraubt. Davon ausgehend überlege ich zusammen mit den Schülerinnen und Schülern, was wir auch von der Schweiz aus gegen Kinderarbeit tun können. Und ich gebe schliesslich einen Überblick über die Arbeitsweise im Fach Geschichte – ganz konkret: Ich übe mit den Schülerinnen und Schülern, wie man eine Quelle oder eine historische Darstellung liest. Stark vereinfacht geben die sogenannten W-Fragen hier eine Hilfestellung: Was steht im Text? Wer hat den Text geschrieben? Wann wurde der Text verfasst und nicht zuletzt; welche Intention verfolgte der Verfasser?

«Semper aliquid haeret – immer bleibt etwas hängen» pflegte meine Lateinlehrerin an der Kanti stets zu sagen, wenn wir uns durch einen sich über sieben Zeilen erstreckenden Satz von Ovid quälten und darin nach Hauptverb und Subjekt suchten. Ob sich meine Schülerinnen und Schüler in zwanzig Jahren noch an das Thema Kindheit im Mittelalter oder an Jean-Jacques Rousseaus pädagogisches Hauptwerk Émile oder über die Erziehung erinnern können? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Gerade mit Blick auf die momentane Zeit, in welcher Verschwörungstheorien die Runde und Fake-News Schlagzeilen machen, hoffe ich, dass sie vor allem die W-Fragen verinnerlichen und auch in Zukunft kritisch prüfen, was sie lesen, und somit genau hinschauen. Ovid übersetzen kann ich längst nicht mehr, aber die Freude an der Grammatik ist geblieben. Auf dass meine Lateinlehrerin weiterhin Recht behält!

Danilo Raffaele

Wochenbrief_2039