Im Rahmen eines Videoprojektes habe ich vor einigen Jahren Bewohnerinnen und Bewohner eines Zürcher Altersheimes nach ihrer Schulzeit befragt. Was blieb, wollte ich wissen, nach all den Jahren besonders in der Erinnerung haften? Vielleicht liessen sich daraus ja Hinweise gewinnen, worauf es in der Schule ankommt. Die folgenden zwei Beispiele fand ich besonders eindrücklich. Ich will sie einfach nur erzählen und werde offenlassen, welche Schlüsse man daraus ziehen könnte.
Eine fast 100jährige Dame, die als Kind während der Spanischen Grippe ihren Vater verloren hatte, erzählte, dass sie in ihrer Klasse ein Bauernmädchen gehabt hätten. Sie sei während des ganzen Jahres barfuss und in schmutzigen Kleidern in den Unterricht gekommen. «Noch heute tut es mir leid, dass wir sie deshalb gehänselt haben», meinte sie. Eines Tages im Winter habe das Mädchen fürchterlich niesen müssen und habe die ganze Hand voll «Schnodder» gehabt. Der Lehrer, «ein sehr nobler Herr, immer mit einem Poschettli in der Brusttasche seines Anzugs», trat entschlossen auf sie zu, entfaltete das feine Stofftuch und reichte es dem Mädchen wortlos. «Die Geste war voller Würde. Von seinem Respekt ihr gegenüber, dass er sogar sein Poschettli opferte, war ich tief beeindruckt. Das Hänseln hat von da an aufgehört.»
Im Zentrum des zweiten Beispiels steht ein Musiklehrer. Jeden Tag habe er den Unterricht auf die gleiche Art begonnen. «Es war ein bisschen langweilig, muss ich zugeben. Wir hatten Angst vor ihm, er schien sehr streng», erzählte ein anderer Bewohner. Einmal sei es anders gewesen. «Eines Tage kam er rein, setzte sich wortlos ans Klavier und spielte etwas irr und verloren vor sich hin. Ziemlich wilde klassische Musik. Fast die halbe Lektion lang. Dann ist er aufgestanden und hat gesagt: 'Meine Frau ist schwerkrank, ich musste mich trösten, ich bin so traurig und habe Angst, dass sie sterben wird.'» Auf die Frage, wie die Klasse reagiert habe, sagt der weit über 90 Jahre alte Herr: «Es war während des ganzen Spiels absolut still. Wir merkten, dass etwas Besonderes passierte. Vielleicht habe ich später deshalb Musikwissenschaften studiert. Auf jeden Fall hatten wir danach ein anderes Verhältnis zu ihm.»
Auch wenn es sich bei diesen beiden Anekdoten nicht um belastbare Ergebnisse einer empirischen Untersuchung handelt, regen sie doch dazu an, über Unterricht nachzudenken: jenen, den man selber erlebt hat oder noch erlebt, oder jenen, den man selber gibt. Worauf kommt es letztlich an? Welche Erkenntnisse und Erfahrungen sind wesentlich? Was ist prägend? – In den letzten Wochen ging es immer wieder um Faktoren, welche die Schule bestimmen – räumliche Gegebenheiten etwa und die neuen Voraussetzungen der Digitalen Medien. Dadurch konnte der Eindruck entstehen, als spiele sich der Unterricht sozusagen in einem zwischenmenschlichen Vakuum ab. Wenn die beiden erzählten Szenen aber etwas deutlich machen: Es sind zwischenmenschliche Beziehungen, die durch diese Voraussetzungen ermöglicht werden, und es ist zentral, mit welchen Haltungen wir einander begegnen. Das soll bei allem, was wir in den nächsten Jahren bezüglich Schulraumplanung und Unterrichtsentwicklung überlegen, der Fokus sein, von dem her wir Schule denken wollen.
Jürg Berthold
Wochenbrief 20_37