Fürs eigene Fach brennen, ohne Fachidiot zu sein

Warum eine der Stärken des Gymnasiums seine Entwicklung hemmen kann. Überlegungen dazu im aktuellen Wochenbrief.

Das Rückgrat des gymnasialen Unterrichts in der Schweiz liegt in der Orientierung an den Fächern. Die Lehrpersonen sind – anders als in vielen anderen Ländern – in ihrem Selbstverständnis Mathematikerinnen, Romanisten, Physikerinnen. Daraus ergibt sich das hohe fachliche Niveau und die frühe Ausrichtung auf das, wie die Hochschulen dann weiterarbeiten. Nicht zuletzt das Herzblut der Lehrkräfte empfängt von daher seine Impulse: Man will in seinem Fach möglichst weit kommen, viele Türen öffnen, das Grundsätzliche zeigen. Und man versucht, den Kontakt zu den aktuellen Entwicklungen des eigenen Faches nicht zu verlieren. Viele Lehrerinnen und Lehrer haben zwar zwei Fächer studiert, unterrichten aber nur eines, weil sie ihren Weiterbildungsansprüchen nicht in beiden genügen. Es ist zum Beispiel völlig unmöglich, die Neuerscheinungen in Englisch und Deutsch auch nur annäherungsweise auf dem Schirm zu haben. Und will man Literatur unterrichten, ist das ein Muss. Dass die Konzentration auf die Fachinhalte funktioniert, liegt auch in der tiefen Maturand*innenquote und der homogenen sozialen Herkunft begründet: Die Binnenunterschiede zwischen den Leistungen der einzelnen Schüler*innen sind in der Regel so gering, dass man sich das leisten kann. Damit hängt dann auch das Versprechen auf die Allgemeine Hochschulreife zusammen, das zumindest auf dem Papier noch gemacht wird und die Bildungswege faktisch offenhält.

Die Orientierung an den Fächern stellt aber auch ein Hindernis dar, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Der Kanon der Fächer ist erstens erstaunlich konstant über die Jahrzehnte, ja sogar über die Jahrhunderte. Was einmal seinen festen Platz hat, lässt sich kaum mehr vertreiben. Neue Fächer haben es schwer, weil sie das feste Gefüge der Stundentafeln durcheinanderbringen. Das wird im nächsten Jahr auch bei der vom Bund verordneten Berücksichtigung der Informatik passieren: Man wird sich überlegen müssen, welche Fächer Lektionen abgeben müssen. Zweitens stimmt diese Auswahl der Fächer nicht mehr mit der Situation an den Hochschulen überein: Die Ausdifferenzierungen lösen die traditionellen Aufteilungen auf. Und drittens: Viele Probleme liegen quer zu den Fächern. Wer von realen Fragestellungen ausgeht, stösst mit der Einzellogik der Fächer schnell an Grenzen. Die Fokussierung auf die Fachinhalte führt viertens mit der Zunahme des Fachwissens tendenziell zu einer permanenten Verdichtung der Programme. Mehr in kürzerer Zeit zu wollen führt oft zu einer Didaktik, die wenig nachhaltig ist. Und noch ein fünfter Punkt: Neue Arbeitsformen und Präsenzmodelle im Zusammenhang mit der Digitalisierung lösten nicht nur den fixen Stundenplan auf, sondern haben auch das Potential, die traditionelle Koppelung von Fach, Lektion, Klasse und Lehrperson aufzuweichen.

Wie kann das Gymnasium sein Niveau bewahren und sich gleichzeitig von den negativen Effekten befreien? Woran sollen wir uns orientieren, wenn wir Schulentwicklung auch als Transformation dieser Fächerfixierung verstehen müssen? Wie Freiräume schaffen, in denen vertieft gearbeitet werden kann? – Wenn es so ist, dass unsere Schülerinnen und Schüler noch kommunikativer, noch kritischer, noch kooperativer und noch kreativer werden müssen: Wie kann man dies unter den gegebenen Umständen erreichen? Wie schaffen wir uns die Freiräume dafür?

An allen diesen Themen wollen wir an der KUE trotz den Einschränkungen, die uns Corona auferlegt, festhalten. Die Freiheit, die es für die notwendigen Auseinandersetzungen – in zeitlicher und räumlicher Hinsicht – braucht, müssen wir uns allerdings mühsam zusammensuchen.

Jürg Berthold

Wochenbrief_2046