«Den Lehrberuf habe ich keine Sekunde bereut»

Rektor Martin Zimmermann wird pensioniert. Ein Gespräch in zwei Folgen über das Schnellboot KUE, 40 Jahre Lehrersein und den Reformbedarf des Gymnasiums. Hier folgt der zweite Teil.

 

Martin Zimmermann, kann eine Schulleitung Innovation befehlen?
Nein, das kann man nicht forcieren, das muss von alleine kommen. Und ich verstehe es gerade auch bei jüngeren Lehrerinnen und Lehrern, dass es nicht so einfach ist. Sie müssen ja erstmal eine Basis legen. Und dann können sie dann vielleicht später noch ein bisschen tanzen. Ich selber bin übrigens gar kein guter Tänzer. (lacht)

Warst du begeistert, als du quasi auf der grünen Wiese die KUE aufbauen konntest?
Ja, aber es war ja keine grüne Wiese. Um im Bild zu bleiben: Im Untergrund gab es schon Dünger an den Wurzeln, auch Altlasten, die wirksam wurden. Aber das ist ja nicht schlimm. Es gab auch viele Auseinandersetzungen und ich musste Kompromisse eingehen. Wir mussten auf Dinge verzichten oder andere Sachen einfach laufen lassen. Beispielhaft dazu ist die Diskussion um Türknäufe, über die Jürg Berthold mal einen schönen Wochenbrief geschrieben hat.

Du hast die Kantonsschule Wetzikon, wo du vorher Rektor warst, mit einem Tanker verglichen. Die KUE sei ein Schnellboot. Ist das immer noch so?
Ja, wir sind immer noch ein schlankes, bewegliches Boot. Wir sind eine Schule des Wandels und ich glaube, das ist nötig. Wir hatten Reformprojekte wie Gymnasium 22, wir hatten Corona, jetzt haben wir das neue Maturitätsanerkennungsreglement. Man muss beweglich bleiben, das geht gar nicht anders. Auch wegen KI-Tools wie ChatGPT.

Heute morgen habe ich ChatGPT aufgefordert, den vierten Aufzug von «Nathan der Weise» zusammenzufassen. ChatGPT hat freudig halluziniert, es stimmte praktisch überhaupt nichts. Ist das nicht vor allem eine Gefahr?
Ich glaube, man kann nicht zurück. Die neuen Möglichkeiten sind da und wir müssen sie einsetzen und damit umgehen. Auch deshalb hätte ich mir eine Reform für die Schweizer Gymnasien gewünscht, die viel grundsätzlicher ist, auch den Umgang mit KI einbaut und bei der es auch keine einzelnen Fächer mehr gibt.

Das würde gewerkschaftlich wahrscheinlich Probleme geben...
Ich weiss, man kann das nicht so einfach machen. Aber es wäre nötig gewesen, die Schule neu zu denken. Was brauchen die Hochschulen, die Gesellschaft und was brauchen die Jugendlichen? Und dann wäre man wahrscheinlich nicht wie heute auf 34 Wochenlektionen mit 10 oder 12 Fächern gekommen.

Aber das System ist ja auch erfolgreich.
Es hat sich bei aller Trägheit bewährt, es produziert letztlich Student:innen und dann Akademiker:innen. Es existiert einfach weiter, aber bewegt sich wenig.

Du hast erlebt, wie Lektionen gekürzt wurden, zum Beispiel in Deutsch oder Latein. Auch die Gymnasialzeit wurde um ein halbes Jahr gekürzt. Ist der Stoff so noch vermittelbar?
Ich glaube, dass das Gymnasium auch den Vorteil hat, die Leute vier Jahre lang einfach reifen zu lassen. Es passiert von alleine sehr viel in ihren Köpfen. Da haben wir gar keinen Zugriff. Aber wir können bestimmte Denkformen, beispielsweise aus der Mathematik, mitgeben, auch wenn man Teile der Mathematik nicht mehr verwenden wird. Was weiss ich noch von der Integralrechnung? Ich habe sie nie gebraucht. Aber vielleicht hat sie mein Denken trotzdem geprägt? Der sogenannte Stoff wird aber überschätzt.

Inwiefern?
Für die Hochschulreife ist der Stoff nicht so wichtig. Wenn jemand Französisch studieren will – was heute fast niemand mehr macht –, dann muss er gar nicht so gut französisch können, an der Uni kann sie oder er das nachholen. Aber er oder sie muss denken können, beharrlich sein, Ideen verfolgen und eine Sache nicht aufgeben, auch wenn es schwierig wird. Diese Fähigkeiten kann man an ganz verschiedenen Dingen üben. Das heisst aber auch nicht, dass man gar kein Französisch oder Mathe haben soll. Man soll an diesen Sachen arbeiten. Ob man aber von diesem Stoff 100 Prozent oder 85 oder 75 behandelt, ist nicht entscheidend.

Man muss sich auch nicht an überfrachtete Lehrpläne halten.
An die hält sich ja sowieso niemand vollständig. Aber man darf das Kind nicht mit dem Bade ausschütten und sagen, ja, es gibt keinen Stoff mehr, es gibt nur noch das Reifen, denn man reift eigentlich nur, indem man sich an Themen, Stoffen reiben kann. Braucht man «Nathan der Weise» fürs spätere Leben? Wahrscheinlich nicht. Aber die Ringparabel kann einen prägen. Aber manchmal jagt mir der Gedanke auch Angst ein.

Warum?  
Weil die Leute irgendwann nur noch von Harry Potter und Taylor Swift geprägt sind. Da würde schon etwas fehlen. Aber man findet sicher auch bei Harry Potter interessante Denkformen, meinetwegen auch bei Taylor Swift, deren Musik ich nicht mag. Und ihre Texte kenne ich nicht. (lacht)

Was wirst du denn jetzt als Pensionär unternehmen?
Also erstens habe ich noch zwei kleine Kinder, und zweitens unterrichte ich noch eine fünfte Klasse an der KUE bis zur Matur. Dann habe ich noch einen kleinen Beratungsauftrag an einer Privatschule. Und ich möchte sehr gerne wieder häufiger in die Zentralbibliothek gehen.

Du hast 40 Jahre unterrichtet. Welche Episode fällt dir spontan ein?
Da gäbe es natürlich viele. Spontan fällt mir ein ehemaliger Schüler ein, den ich getroffen habe. Er hat mir erzählt, er habe alle Schulbücher weggeworfen, ausser den Französischtexten, die wir gelesen haben. Das hat mich gefreut. Er war zwar in einer schwierigen Klasse und in Französisch auch nicht besonders gut. (lacht)

Hast du jemals bereut, den Lehrberuf gewählt zu haben?
Nein, keine Sekunde.

Interview: Matthias Böhni

Hier gehts zu Folge 1 des Gesprächs.