«Das System tut nur so, als wäre es stark»

Rektor Martin Zimmermann wird pensioniert. Ein Gespräch in zwei Folgen über das Schnellboot KUE, 40 Jahre Lehrersein und den Reformbedarf des Gymnasiums. Hier folgt der erste Teil.

 

Martin Zimmermann, du bist ein umgänglicher Chef, freundlich, grosszügig, nie aufbrausend oder rechthaberisch, immer gelassen und mit einem ironischen Understatement. Hast du das geübt oder bist du einfach so?
Die Beschreibung freut mich natürlich. Den herrischen, aufbrausenden Chef finde ich nicht gut. Wir haben hier flache Hierarchien, und die wirkliche Arbeit machen sowieso die Lehrpersonen. Wir haben wenig Einfluss, was in den einzelnen Lektionen passiert, aber wir können die Kultur vorzugeben versuchen, wie man unterrichten und mit Schüler:innen umgehen soll. Dahinter ist die Frage, was eigentlich Autorität ist.

Und was ist sie?
Ein finnischer Dirigent hat gesagt, sie sei Fachkompetenz plus Freundlichkeit. Wenn man als Rektor in schwierige Situationen kommt, muss man Fachkompetenz zeigen, aber immer freundlich bleiben. Ob ich das geübt habe? Ich glaube nicht.

Muss man nicht manchmal auch «durchgreifen» und Stärke zeigen?
Die Frage ist, wie man Stärke sichtbar macht. Klar, es gibt die disziplinarische Schiene, die aber häufig kein Zeichen von Stärke ist, sondern der Versuch, sich auf ein System zu stützen, das so tut, als wäre es stark. In Wirklichkeit braucht es unheimlich viel, um beispielsweise einen Schüler von der Schule auszuschliessen. Das muss dann juristisch sehr sicher sein. Ich habe in den 20 Jahren, in denen ich Schulleiter war, nur ein einziges Mal erlebt, dass ein Schüler ausgeschlossen wurde.

Wie soll man denn als Schulleiter auf «mühsames» Verhalten reagieren?
Die Stärke zeigt sich in der Beharrlichkeit im Gespräch, in der Klarheit im Umgang. Und ich glaube nicht, dass man mit disziplinarischen Mitteln, quasi strafrechtlichen Massnahmen, etwas durchsetzen kann, das ist ein Irrtum.

Du hast jetzt über 40 Jahre Lehrpersonen erlebt. Wie haben sie sich verändert?
Als ich begann, war ich viel ängstlicher, bescheidener, demütiger, sogar unterwürfiger. Viele junge Lehrpersonen haben heute aber eine recht grosse Selbstsicherheit gegenüber der Schulleitung und der Institution Schule. Gleichzeitig haben sie auch erstaunlich viele Fragen. Ich wäre nie, aber wirklich nie zum Rektor gegangen, um zu fragen, wie ich mit diesem oder jenem Schüler umgehen soll. Das hätte ich mich nicht getraut. Jürg Berthold, Karin Hunkeler und ich werden häufig mit solchen Fragen konfrontiert. Da helfen wir gerne, das ist nicht der Punkt. Es ist einfach anders als früher. Die Lehrpersonen sind heute irgendwie unsicherer und stützen sich gerne auf die Kraft der Institution. Dabei verkörpern sie die Institution doch selber.

Was sind die Gründe?
Die Autorität des Lehrers oder der Lehrerin wurde vielleicht ein bisschen durch juristische Vorgehensweisen untergraben. Man hat schnell das Gefühl, es könnte einen Rekurs geben oder die Eltern reklamieren. Ein gesellschaftlicher Diskurs, der eine bestimmte Korrektheit verlangt, drückt einen dann zusätzlich in ein enges Korsett. Und das ist zum Teil auch gut so. Ich bin als Primarschüler noch geschlagen worden. Da hat sich zum Glück vieles verändert.

Wie haben sich die Schüler:innen in den letzten 40 Jahren verändert?
Ich glaube, sie sind netter geworden, angepasster und weniger rebellisch. Sie spüren den gesellschaftlichen Druck. Sie sagen sich: «Ich muss gut sein, bestehen, mein Diplom erhalten», vermutlich weil die Zukunftsaussichten nicht mehr so rosig sind wie noch vor 40 Jahren. Das Gleiche sieht man übrigens bei den jungen Lehrpersonen.

Gab es früher keinen Druck?
Doch natürlich. Als ich noch Schüler war, hatten wir Angst vor dem Atomkrieg. Aber ich glaube, es gab damals noch eine positivere Grundstimmung: Es geht aufwärts, die Wissenschaft macht Fortschritte, die Gesellschaft wird gerechter, der Wohlstand grösser.

Etwas Aufklärerisches.
Genau. Heute gibt es neue Gefahren, die möglicherweise die Lebensqualität beeinträchtigen. Und es kann sein, dass das auch die Haltung in der Schule verändert. Wir hatten damals noch mehr Freaks, die sich für irgendein Gebiet extrem interessierten. Heute geht es vor allem darum, gute Noten zu haben und Creditpoints zu sammeln. Und wenn die Schüler:innen mal rebellisch sind, dann eher rechtskonservativ: Sie sagen: «Provozieren wir mal die Lehrpersonen, indem wir ihre politische Korrektheit ein bisschen ankratzen.»

Auf unserer Website wirst du wie folgt zitiert: «Wir werden mit dem Uetiker Team versuchen, die gymnasiale Tradition mit neuen Formen des Unterrichts zu kombinieren.» Du warst nun sechs Jahre in Uetikon. Ist es gelungen?
In Ansätzen ja. Wir haben viele Lehrerinnen und Lehrer, die offen für Versuche sind und im Unterricht Dinge ausprobieren. Gleichzeitig sind natürlich alle geprägt von den Schulen, an denen sie vorher gearbeitet hatten, und von den Schulen, an denen sie selber Schüler:innen waren.

Hier gehts zu Folge 2 des Gesprächs. 

Interview: Matthias Böhni